Back Den Kindern ein Nest

„Den Kindern ein Nest“: Die erfolgreiche Veranstaltungsreihe geht weiter. Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachrichtungen lassen interessierte Eltern an ihren Erkenntnissen und Erfahrungen teilhaben.

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Im Interview gibt Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Katholischen Jugendfürsorge Regensburg, einen ersten Überblick zur Veranstaltungsreihe und erklärt, wie sich übermäßiger Medienkonsum in der frühen Kindheit auf die spätere Entwicklung auswirkt.

Dr. Simon Meier ist Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg sowie fachlicher Sprecher aller zehn Beratungsstellen der KJF Regensburg (Foto: Sebastian Schmid)

 

Herr Dr. Meier, welche Themen stehen im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe?

Wir wollen Eltern einen Überblick geben, worauf es in einer gelingenden Erziehung wirklich ankommt. Nämlich eine bindungsbasierte Entwicklung: einerseits das Kuschelige, Warme und Geborgene, andererseits die Autonomie – das Kind anleiten, Dinge selbst zu tun. Wir beginnen dieses Mal im peripatalen Bereich, um die Geburt herum. Es geht darum, wie man die Resilienz der Kinder stärkt, also Kompetenzen, die ich ein Leben lang brauche. Das eine ist die Emotionsregulation, wie kann ich mit negativen Emotionen umgehen. Das andere ist Feinfühligkeit, wobei gerade auch die Väter in ihrem Spielverhalten mit dem Kind eine große Rolle spielen.

 

Ist es heute so schwer wie noch nie, Kinder gut und sicher zu erziehen?

Ja und nein. Grundsätzlich war es immer gleich schwer oder einfach, Kinder zu erziehen. Man kann aber mittlerweile auf zwei Seiten vom Pferd fallen. Auf der einen Seite, weil Eltern aufgrund von mangelnden Ressourcen und der überbordenden Medienlandschaft so stark mit ihren eigenen Themen und ihrem Medienkonsum beschäftigt sind, dass Kinder nicht mehr die Zuwendung und Aufmerksamkeit bekommen, die sie brauchen.

Auf der anderen Seite, gibt es Eltern, die es besonders gut machen wollen, sehr viel über Erziehungsthemen lesen und sich gegenseitig mit Herausforderungen infizieren. Sie versuchen, extrem bindungs- und bedürfnisorientiert zu erziehen und entwickeln einen hohen Anspruch, der Eltern dann enorm unter Stress setzt. Dabei ist Erziehung – genauso wie vor 50, 100 oder auch schon vor 1.000 Jahren – etwas, bei dem viel intuitiv läuft.

 

Inwiefern kann auch der Social Media Konsum der Kinder ein glückliches Aufwachsen der Kinder erschweren?

Das ist eine enorme Herausforderung, wobei wir lange im Trüben waren. Im September gab es erstmals weltweit eine Studie in Australien und Neuseeland mit E-Noise-Tracking, um zu messen, wie hoch ist denn der Medienkonsum wirklich. Dabei kam heraus, in den bildungsnahen Familien waren es 90 Minuten durchschnittlich pro Tag – bei Zweijährigen. Und bei den bildungsfernen Familien etwas über drei Stunden. Es gibt mittlerweile Handyhalterungen für Kindersitze und Kinderwagen. In diesem Alter ist eine derartige Reizfülle und die Menge an Informationen für die Gehirnentwicklung bedrohlich.

 

Das sind alarmierende Zahlen…

Allerdings. Bisher haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studien immer selbst eingeschätzt. Dabei neigt man zur Untertreibung. Jetzt wurde realistisch gemessen. Das hat dazu geführt, dass Australien und Neuseeland Soziale Netzwerke für Unter-16-Jährige verboten haben. Man hat gemerkt, dass Jugendliche und auch Eltern ihren Medienkonsum oft nicht steuern können und die Kinder erst recht nicht.

 

Worin liegen dabei die größten Gefahren?

Mit jeder Stunde Bildschirmzeit verpasse ich eine Stunde Realität. Wenn ich etwas virtuell mache, kann ich es nicht in Echt erleben. Das betrifft alle Generationen, vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Bei kleinen Kindern kommt noch die Überreizung des Gehirns dazu: Kinderfilme der 70er- und 80er-Jahre hatten viel weniger Schnitte und waren langsamer im Tempo der Handlungen als heute. Dann haben wir noch den die Inhalte: Je älter Kinder werden, desto attraktiver wird der Bereich der Angstlust. Das sind Inhalte, die eigentlich verstörend sind, aber ein Kind in den Bann ziehen können, was es aber überfordert.

 

Ist denn ein striktes Handyverbot sinnvoll?

Es macht einen großen Unterschied, wenn man gelegentlich Medien einsetzt, etwa um ein Kind zu beruhigen, während man auf einen Arzttermin wartet. Das ist bei Weitem nicht so problematisch, als wenn man es täglich nutzt, um seine Ruhe zu haben oder sich sogar noch einredet, man würde dadurch Pädagogik und Bildung zu fördern. Bei Null- bis Dreijährigen sollte man einen sehr, sehr vorsichtigen Umgang mit Medien pflegen.

 

Die Zahl der schweren Unfälle auf Spielplätzen und Badeweihern sind seit einiger Zeit signifikant gestiegen. Besteht hier einen Zusammenhang zu den Sozialen Medien?

Viele Menschen haben nur noch eine Wahrnehmung von wenigen Zentimetern vor sich, nämlich ihren Bildschirm. Und wenn nun drum herum ein Kind verunfallt oder im offenen Gewässer zu ertrinken droht, wird auch das weniger wahrgenommen. So erklärt man sich diesen Anstieg als hauptsächlichen Faktor. Beim Spielplatz kommt noch dazu, dass die Eltern weniger eingreifen können, wenn ein Kind übertriebenes Risikoverhalten zeigt.

Unabhängig von den Unfällen… Eltern bekommen auch die verbindenden Momente nicht mehr mit. Kinder leben oft davon zu sagen „Mama, hast du gesehen, wie ich geklettert bin? Papa hast du gesehen, wie hoch ich geschaukelt bin?“ Und wenn sie sich nicht gemeinsam an einer Aktivität oder einer neuen Kompetenz erfreuen können, dann verlieren beide Seiten den Austausch und die Verbundenheit. Jeder zieht sich in seine mediale Welt zurück.

 

Welche Folgen ergeben sich daraus?

Der übermäßige Medienkonsum erfolgt aus unterschiedlichen Gründen: Häufig aus der Motivation, für Ruhe und einen Freiraum zu sorgen. Das muss ich vielleicht auch häufiger nutzen, wenn ich alleinerziehend bin, keine Großeltern in der Nähe habe und mich 24 Stunden täglich um eines oder mehrere Kinder kümmere. Man kann das auch manchmal machen. Aber entscheidend in der Erziehung ist, was passiert zu 75 Prozent, was passiert meistens. Und wenn man zu 75 Prozent sagt, ich setze jetzt keine Medien ein, um mein Kind zu beruhigen, dann entsteht es etwas Gelingendes.

Bei Medien ist es wie bei allen suchtgebundenen Prozessen, man braucht immer eine Steigerung der Dosis. Wenn man schon mit zwei Jahren bei 90 Minuten oder sogar drei Stunden ist, dann wird im Jugendalter die gesamte Freizeit davon absorbiert. Hobbys, Freizeitaktivitäten, Freude treffen, die Welt entdecken ist dann kaum noch möglich. Darunter leiden dann die sozialen Kompetenzen in der realen Welt, das ist schon besorgniserregend.

 

Wie wirkt sich das langfristig auf Jugendliche aus?

Wir haben in unserer Beratungsstelle vermehrt die Themen Einsamkeit und soziale Unverbundenheit bei den Jugendlichen – das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Gleichzeitig gibt es die Angst, etwas zu verpassen. Aber ohne Verzicht werden wir keine tiefen Erfahrungen machen, das ist etwas Wesentliches. Denn wenn wir nicht verzichten – bei diesem überbordenden Angebot an Medien, Sportarten und anderen Möglichkeiten – werden wir keine Expertise kriegen. Ich werde nirgendwo besonders gut sein, wenn ich zehn verschiedene Hobbys beginne und nirgendwo dabeibleibe.

Ich werde aber auch auf Beziehungsebene keine intensiven Erfahrungen machen, mit meinen Eltern Geschwistern, Freunden, wenn ich nicht genug Zeit mit ihnen verbringe. Viele Jugendliche haben viele Beziehungen, aber nur oberflächlich. Es wird zunehmend zum Problem, dass immer mehr Kinder und Jugendliche keine intensiven, besten Freundschaften mehr haben, sondern viele Kumpels. Sie bleiben oft auf der Digga-Ebene und es gibt immer weniger Bros oder Homies, um hier in der Jugendsprache zu bleiben.

 

Welchen Rat können Sie Eltern geben, um rechtzeitig gegenzusteuern?

Die Dosis macht das Gift aus und sie wird automatisch gesteigert. Wenn ich mit zwei Jahren schon auf einem hohen Ausgangslevel bin, wird es immer schwieriger, etwas zu unterbinden. Eltern müssen dann immer massiver vorgehen und das sehen wir in der Beratungsstelle und auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: heftige Wutausbrüche und Eskalationen, weil Medien weggenommen werden, weil das W-LAN ausgeschaltet wird. Oft lassen sich Jugendliche nicht mehr mit weniger einschneidenden Maßnahmen eingrenzen.

Kinder unter drei Jahren sollten maximal 30 Minuten Bildschirmzeit am Tag bekommen, das ist die Obergrenze. Es ist ja keine Lebensnotwendigkeit, mein Kind wird nicht mediale Bildung verpassen, wenn es in den ersten drei Jahren komplett ohne Handy und Tablett aufwächst. Im weiteren Verlauf braucht es sicherlich eine Medienkompetenz, aber am Anfang ist das nicht notwendig.

 

Wie sieht es mit dem Social-Media-Konsum der Eltern aus? Was beobachten Sie hier?

Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit einer Mutter. Sie sagte: Ich bin auf die Toilette gegangen und habe mein Kind mit sechs Monaten für zwei Minuten alleine gelassen. Als ich wiedergekommen bin, hat es gequengelt. Jetzt habe ich gelesen, man sollte seine Kinder keine Sekunde aus den Augen lassen… Es gibt also viele unsinnige Tipps von Influencern, die Eltern verstören und ihnen ein schlechtes Gewissen machen. Das führt auch dazu, dass Kinder in den ersten Lebensjahren nicht mit Ärger und Frustration umgehen lernen. Zu einem gewissen Grad gehört es dazu, dass nicht jedes Bedürfnis prompt erfüllt wird. Wir wissen, dass Kinder schon mit acht Monaten Strategien haben, um mit Ärger umgehen zu können. Ärger muss man zunächst nicht trösten. Die viel bindungsrelevantere Emotion ist, wenn Kindern Angst oder Traurigkeit erleben, hier ist man auch im Jugendalter gefordert, schnell Sicherheit zu vermitteln. Aber Frustration dürfen wir unserem Nachwuchs in dosierter Art und Weise zumuten, denn daran kann man auch wachsen.

Genauso dürfen wir auch Langeweile zumuten. Langeweile geht immer mehr verloren, jeder Moment wird durch Medienkonsum gefüllt. Aber aus der Psychologie wissen wir, dass Kreativität durch Langeweile stimuliert wird, weil das Gehirn mit weniger Reizen versucht, neue Verbindungen herzustellen – das ist die Quelle von Kreativität.

 

Gibt es auch Influencer oder Ratgeber, die ihre Sache gut machen?

Das Intuitive ist erstmal etwas sehr Gutes. Man kann es aber verunsichern, indem man sich zu viel mit Ratgebern und Influencern beschäftigt. Ich würde mich eher fragen, bin ich mit meiner eigenen Kindheit zufrieden? Dann werde ich es intuitiv ähnlich machen und brauche weniger Input. Wenn ich eine schwierige Kindheit hatte, dann ist es sinnvoll, sich mehr damit zu beschäftigen, um nicht die gleichen Fehler zu wiederholen oder nicht radikal ins Gegenteil zu kommen. Wer beispielsweise sehr strafend und autoritär erzogen wurde, sollte nicht in den extremen Laissez-Faire-Stil gehen, denn das führt auch zu Folgeschäden.

Es gibt die Seiten der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung oder der Landesarbeitsgesellschaft für Erziehungsberatung. Es gibt auch sehr gute Bücher wie „Kindheit – Eine Beruhigung“ von Oscar Jenni, der an unserer Veranstaltungsreihe teilnimmt. Es lohnt sich, das zu lesen. Wer verunsichert ist, kann auch das niederschwellige Angebot unserer Beratungsstelle nutzen. Viele unserer Klientinnen und Klienten kommen zu ein oder zwei Terminen und gehen gestärkt daraus hervor.

Interview: Sebastian Schmid